BARBAREN
Fernsehserie, Netflix, Deutschland 2020.
– Vermischte Bemerkungen zur Geschichtsrezeption der Clades Variana –
in einer Abenteuer-Fernsehserie
von Lothar Jungeblut.
Arne Nolting (Drehbuchautor):
„Es gibt zwar viel Literatur und viel Forschung, aber nur sehr spärliche Quellen, und natürlich hatten wir intensive Fachberatung. Wir haben uns die Freiheiten genommen, Figuren zu erfinden, historisch verbriefte Figuren in unserem Sinn zu interpretieren, und natürlich haben wir dramatisiert und verdichtet.“
Anders geht es auch gar nicht! Und wenn manche Elfenbeinturmwissenschaftler sich vielleicht bewusst oder unterbewusst dagegen wehren, dass Themen ihrer hehren Forschung in Unterhaltungsmedien als Stoff für Erzählungen dienen, dann müssten sie auch Goethes Götz und Shakespeares Königsdramen verdammen. Gerade Shakespeare als „freier Theaterunternehmer“ war sicherlich immer darauf angewiesen, ein zahlendes Publikum gut zu unterhalten. (Ich bitte diese Polemik zu entschuldigen.)
Dramatis Personae:
Arminius
In der Fernsehserie ist Arminius eine Figur mit gebrochenen Wurzeln, über mehrere Folgen unentschieden zwischen den zwei Welten, den zwei Kulturen, auch zwei Vaterfiguren, mit denen er sich in einer klassischen Dilemmasituation verbunden fühlt. Akkulturierter Römer – oder dann doch der Abstammung nach Barbar? Die Rolle ist sehr gut geschrieben. Und das ist mit der historischen Quellenlage weitestgehend kompatibel. Auch ist sie von Darsteller Laurence Rupp überzeugend gespielt.
Die Figur des Arminius wird hier in einer Weise angelegt, die vielleicht nicht der heute vorherrschenden Forschungsmeinung entspricht: Arminius als römischer Offizier, römischer Ritter, Anführer regulärer Truppen, Ziehsohn des Varus. Das erste und das zweite sind historisch belegt, bei anhaltender Forschungsdiskussion, was das denn in seinem Fall konkret zu bedeuten hat. Anführer regulärer Hilfstruppen? Da gibt es Zweifel. Ziehsohn des Varus? Phantasie der Drehbuchautoren – aber für eine zusätzliche Dramatisierung völlig im Rahmen der zugestandenen dichterischen Freiheit.
Nach historischer Quellenlage werden sich Arminius und Varus wahrscheinlich schon vor den Ereignissen im Jahr 9 n.Chr. länger gekannt haben. Die Konstruktion, dass Arminius nach seiner Geiselstellung an Rom ausgerechnet Ziehsohn des Varus geworden sein soll, bietet für die Verfilmung das Potential, ihn zwischen zwei verschiedene Vaterfiguren zu stellen. In der ersten Hälfte der Serie ist das ein wichtiges und gut umgesetztes Erzählmotiv.
Wer sich mit der historischen Überlieferung zu Arminius und auch Varus beschäftigen will, sei verwiesen auf WOLTERS 2008, der drei verschiedene, in der Forschung vertretene mögliche Biographien des Arminius zusammenfasst und diskutiert. Mir erscheint der Arminius der Netflix-Serie mit wenigen Einschränkungen historisch möglich und im Rahmen der Erzählung im Film plausibel.
Thusnelda
In der antiken Geschichtsschreibung taucht Thusnelda erst ein paar Jahre nach der Handlung der Fernsehserie auf, die ja vorerst im Jahre 9 n. Chr. endet. Arminius habe sie als Tochter des Segestes (eines römerfreundlichen cheruskischen Fürsten) geraubt, und sie zu seiner Braut gemacht. Grob passt da manches zur in der Fernsehserie erzählten Geschichte, anderes ist (völlig legitim) hinzugedichtet.
Thusnelda ist in der Fernsehserie keineswegs eine Nebenfigur, die für eine dem Medium entsprechend kaum vermeidbare Liebesgeschichte und etwas milde Erotik sorgt. Vielmehr ist sie als treibende Kraft hinter den Bemühungen, einen Aufstand gegen Rom zu entfachen, dargestellt.
Dabei tritt sie einerseits als „weise Seherin“ auf, die dem Aufstand einen religiösen „Schubs“ gibt, als dieser auf der Kippe steht. Eine m.E. großartig geschriebene Szene. Es erscheint hier aber so, dass sie keineswegs tatsächlich eine Verbindung zu „den Göttern“ hat, sondern das nur vorgibt, bzw. eine solche Verbindung erhofft. In der historischen Überlieferung sind Vorbilder für „weise Seherinnen“ in der Germania nicht im Zusammenhang mit der Arminius/Thusnelda/Varus-Geschichte überliefert, wohl aber in zeitnahen anderen Zusammenhängen. Der (zugegebenermaßen eher sagenhaften) Überlieferung nach war es nicht ein großes germanisches Heer, das im Jahre 9 VOR Chr., also kurz vor den geschilderten Ereignissen, dem römischen Feldherrn Drusus gebot, die Elbe nicht zu überschreiten. Es sei eine einzelne, riesenhaft erscheinende, germanische Frau gewesen. Nach viel späterer Lesart soll das übrigens nahe unserer Nachbarstadt Magdeburg gewesen sein.
Ebenso spielt eine „weise Seherin“ mit Namen Veleda eine nicht unbedeutende Rolle im Bataveraufstand 69 n. Chr., also etwa zwei Generationen nach der Arminiusgeschichte.
Thusnelda in der Fernsehserie ist aber nicht nur vorgebliche Seherin (Priesterin), Beraterin der Stammesfürsten; sie wird auch noch persönlich zur Kämpferin in der finalen Schlacht.
Die Kostümbildnerin Esther Walz erklärt im Pressematerial zur Serie:
„Thusneldas Kriegslook ist reine Erfindung. Damals war sehr wahrscheinlich auch keine Frau im Krieg mit dabei.“
Der Kriegslook ist reine Erfindung. Leider. Für kaum bekleidete, ganzkörperbemalte Frauen in der Clades Variana gibt es natürlich keinerlei historische Referenzen. Frauen könnten aber durchaus mitgekämpft haben.
Für die Markomannenkriege – wenige Generationen später – gibt es bei Cassius Dio eine entsprechende Bemerkung (Dio 71,3,2).
An der Darstellung der Figur durch Jeanne Goursaud ist kaum Kritik zu äußern.
Wäre die Thusnelda hier vielleicht besser mit einer etwas herberen und stimmgewaltigeren Darstellerin besetzt worden? Goursaud ist – für meinen Geschmack – ein wenig zu hübsch für die Rolle. Dennoch gibt es nur eine Szene, die tatsächlich nicht überzeugte: Mit einem Kriegsschrei leitet Thusnelda den finalen Angriff auf das römische Heer ein. Der Kriegsschrei ist leider hier viel zu dünn. Das ist aber nicht an Goursaud zu kritisieren. Leicht hätten die Produzenten diesen Schrei durch eine stimmgewaltigere Person synchronisieren lassen können.
Die in der Serie gezeigte Thusnelda gab es historisch wohl so sicher nicht. Aber die Figur weist eine Reihe von Referenzen zur historischen Überlieferung auf.
Publius Quinctilius Varus
Der von mir als Quelle sehr geschätzte Zeitgenosse der Ereignisse, Velleius Paterculus, römischer Offizier, wohl einziger überlieferter Schriftsteller, der sowohl Varus, als auch Arminius persönlich gekannt hat – und selbst an Feldzügen in der Germania teilgenommen hat! – beurteilt Varus in der Rückschau sehr negativ. Er sei ein militärisch völlig unverständiger Bürokrat gewesen, grundsätzlich unfähig, die Situation in der Germania zu handhaben. Dies ist wahrscheinlich ein ungerechtes Urteil und eine Sichtweise auf Varus, die sich erst in den folgenden Jahrzehnten entwickelte. Eine Diskussion der Quellenlage findet sich ebenfalls bei WOLTERS 2008.
Im Film ist Varus keineswegs unfähig, aber durchaus etwas arrogant und zu vertrauensselig gegenüber seinem Ziehsohn Arminius. Großartig ist hier die Umsetzung der historisch überlieferten Szene, in der Segestes gegenüber Varus den geplanten Verrat des Arminius erklärt. Der anwesende Arminius wendet die Anschuldigungen ab, in dem er sie ins Lächerliche zieht.
Die Darstellung des Varus durch Gaetano Aronica hat mir ausgesprochen gut gefallen. Auch ist die filmische und darstellerische Umsetzung seines Freitodes auf dem Schlachtfeld sehr gelungen.
Folkwyn Wolfspeer
Die für die Serie frei erfundene Figur ist im Grunde wunderbar konstruiert. Der dem Drehbuch nach als Kind gemeinsam mit Arminius und Thusnelda aufgewachsene Folkwyn spiegelt einen Arminius, wie er hätte sein können, wäre er nicht als Kind als Geisel nach Rom gegangen. Zusätzlich entwickelt sich im Laufe der Serie hier eine „Ménage à trois “. Deren Auflösung ist aber wohl einer möglichen Fortsetzung der Serie vorbehalten.
Leider überzeugt die tatsächliche Darstellung der Figur Folkwyn dann doch oftmals nicht – wenn sie – manchmal „nuschelnd“ – spricht. Ich bin unsicher, ob dies am Schauspieler David Schütter, an der Regie, oder an dem für ihn geschriebenen Text liegt. Sein Ton wirkt anders, als der aller anderen „Barbaren“, irgendwie zu „schnodderig“. Vielleicht finde ich auch das Schauspiel von David Schütter teilweise überzeichnend, fast, als ob er die Figur nicht ganz ernst nimmt.
Segimer und Segest
Segimer, Vater des Arminius (Nicki von Tempelhoff) und Segest (Bernhard Schütz), Vater der Thusnelda, sind absolut überzeugend. Beide Figuren entstammen der historischen Überlieferung. Ihre Interpretation im Drehbuch widerspricht dieser grundsätzlich nicht.
Von Tempelhoff gibt hervorragend einen gebrochenen, alternden Anführer. Mehrfach gibt es Situationen, in denen seine Figur Entscheidungen gegen besseres Gewissen fällen muss. Das wird nicht „gesagt“, sondern wunderbar „gespielt“.
Schütz gibt einen der besten „Bösewichter“, Intriganten, Opportunisten, die ich in jüngerer Zeit in Film und Fernsehen gesehen habe.
Das aber ist erwartbar: Beide sind ja keine „Filmsternchen“, sondern gelernte Theaterschauspieler mit langjähriger Erfahrung auch im Film.
Hier zeigt das Drehbuch wieder zwei entgegengesetzte Figuren, die ungleich das Gleiche darstellen: Segimer ist zu Beginn der Handlung „Fürst“ der Cherusker. Segest wird es zumindest kurzzeitig. Beide sind ursprünglich nicht römerfeindlich. Segimer hat lange Haare und trägt einen Bart. Segest ist rasiert und hat eine eher römische Frisur. Zudem spricht er gelegentlich Latein, ganz bewusst aber mit einem holprigen, deutschen Akzent.
Talio
Anführer einer „germanischen“ Ala – berittener Hilfstruppe der Römer
Ob es mehr oder weniger römisch ausgerüstete, uniformierte, aus „germanischem Personal“ rekrutierte Hilfstruppen zu dieser Zeit bereits gegeben hat, ist in der Forschung umstritten. Unumstritten ist, dass bereits Julius Caesar eine berittene „germanische Leibgarde“ hatte, die sich bis zur Zeit der Filmhandlung weiterentwickelte, und für die augustäische Zeit als „Germani Corporis Custodes“ überliefert ist. Ebenfalls unumstritten: Kontingente von „germanischen“ Hilfstruppen unterstützten die römische Armee hier und dort. Wie auch immer diese aussahen und organisiert waren.
Vielleicht passt die Truppe von Talio, wie sie hier im Film dargestellt ist, besser in die Zeit der Bataveraufstände zwei Generationen später. Das könnte, muss aber nicht, ein lässlicher Anachronismus sein. In der Serie werden Talios Hilfstruppen ja fast zu Arminius Kerntruppe, denn auf die verschiedenen „Barbaren“ ist nicht unbedingt Verlass.
Die Funktion der Rolle des Talio gibt es ähnlich in anderen historischen Filmproduktionen oder historischen Romanen. Sie ist hier in besonders gelungener Weise ausgeführt. Und dem Darsteller, Florian Schmidtke, sei Respekt gezollt, ebenso wie den Drehbuchautoren. Leider gibt es hier kein Portrait-Pressefoto.
Die vielen anderen Nebenfiguren, die ebenfalls gut geschrieben und gespielt sind, können an dieser Stelle nicht alle erwähnt und besprochen werden.
Erzählerische, historische und archäologische Einzelaspekte:
Es gibt sehr viele, wunderbare, kleine, gut recherchierte Elemente in der Ausstattung und der Erzählung der Filmserie. Natürlich mag man hier und dort auch Fehler bzw. Anachronismen bemängeln, aber das hält sich doch sehr in Grenzen.
So tragen „edle Germanen/Barbaren“ im Film teilweise Kleidung mit Stoffen aus Diamantköper. Solche Stoffe wurden nachweislich Anfang des ersten Jahrtausends nach Christus in Norddeutschland gewebt und getragen. Wer selbst gerne schneidert, schaue auf die heutigen Meterpreise. Seinerzeit konnte sich das sicher nur eine Elite leisten. Das passt recht gut zur Darstellung im Film.
Die „Maske“ von Kalkriese:
In der finalen Schlacht trägt Arminius zunächst einen Helm mit römischer Reitermaske und befindet sich unter den Reihen der Römer. Seine Gesichtsmaske ist in allen Proportionen dem berühmten Fund von Kalkriese entsprechend. Das ist ein schönes filmisches Detail. Als er sie abnimmt, offenbart er zugleich bildlich seinen (vorbereiteten) Seitenwechsel.
Durch die gesamte Handlung der Serie zieht sich als ein Kernmotiv die Uneinigkeit der „Barbaren“. Bereits in der ersten Folge kommt es auf einem Rat verschiedener Stammesführer zu folgendem Wortwechsel:
„Germanen? Seit wann sind wir ‘Germanen’?“ „Sie (die Römer) nennen uns so, weil sie uns nicht unterscheiden können.“
Im Laufe der Handlung bekämpfen und hintergehen sich die verschiedenen ‘germanischen’ Gruppen immer wieder gegenseitig, auch innerhalb der Gruppen gibt es Konflikte.
Gerade aber in der finalen Schlacht gibt es Elemente, die mir beim ersten Ansehen nicht recht gefallen haben. In späteren Überlegungen und nach mehrmaligem Sehen konnte ich sie allesamt als Entscheidungen der Produktion verstehen, möchte sie aber nicht unkommentiert lassen.
Die Ausrüstung der römischen Truppen und ihr Verhalten zu Beginn der finalen Schlacht erscheinen ziemlich akkurat dargestellt. Wie in vielen Historienfilmen zerfasert das Kampfgeschehen dann aber in Einzelkämpfe. Das mag historisch nach meiner Einschätzung nur selten und kurz der Fall gewesen sein.
Die Aufsicht auf Truppenbewegungen der römischen Armee auf einer Waldschneise und deren Bewegungen sind denn doch zu offensichtlich computeranimiert. Die Waldschneise entspricht optisch sicher nicht dem, was römische Pioniere als Heerweg vorbereitet hatten. In diesen kurzen Sequenzen fühlt man sich mehr in einem Computerspiel, als in einem Spielfilm. Die Grundidee, römische Truppenbewegungen und Formationsänderungen aus der Vogelperspektive zu zeigen, ist aber grundsätzlich eine gute. Und sicher hätte eine bessere Umsetzung immense Finanzmittel verschlungen.
Feuer auf dem Schlachtfeld: Das ist optisch bzw. filmisch immer dramatisch, ansonsten aber in der hier gezeigten Weise wahrscheinlich unhistorischer Quatsch. Schon Generationen früher wurden zwar nach historischer Überlieferung in Schlachten z.B. mit Pech bestrichene Schweine angezündet und auf den Gegner zugetrieben. (Gruselig.) Für die römisch-germanischen Konflikte dieser Epoche erinnere ich keine historische Überlieferung von Feuer auf dem Schlachtfeld. Dennoch ist das wohl randlich erzählerisch (nicht historisch) akzeptabel. Dagegen ist ein wunderbarer dramaturgischer Kniff, dass die Römer nicht nur durch das Feuer am Anfang, sondern noch viel mehr durch den dann einsetzenden Regen besiegt werden. Sie blieben im „germanischen“ Schlamm stecken. Feuer und Wasser besiegen das römische Heer.
Die „Kriegsbemalung“ der „Barbaren/Germanen“ in der finalen Schlacht:
Vorab: Für solche „Kriegsbemalung“ gibt es für die hier dargestellte Epoche keinerlei historische Hinweise. Die entsprechenden Designerinnen fühlen sich durch mögliche ethnologische Vergleiche inspiriert. Ja? Im Rahmen der dichterischen oder künstlerischen Ausschmückung erlaubt, in Ermangelung tatsächlicher Überlieferung?
Die Idee gilt nur für ein paar Kämpfer in wenigen Einstellungen. Das mag man erneut für die faktische Diversität kultureller Traditionen der „germanischen“ Gegner der Römer akzeptieren. Aber erzählerisch bringt das keinen Gewinn. Nur die „Kriegsbemalung“ von wenigen, herausragend Arminius, die ein geschminktes, durchgestrichenes rechtes Auge zeigen, hat erzählerisch Gehalt. Er und andere zeichnen sich dadurch als Anhänger der Weissagung der Thusnelda.
Außer der (späteren) Tradition zum „germanischen“ Gott Odin (Wodan, Wotan, Woden etc.), der der Sage nach ein Auge gab, um die Zukunft sehen zu können, bleibt erstaunlich das Motiv der „Einäugigkeit“ unter „germanischen“ Persönlichkeiten, die mehr oder weniger Bezug zur hier erzählten Geschichte haben: Der historischen Überlieferung nach soll Arminius Bruder Flavus, der in der Fernsehserie – vielleicht in Vorschau auf eine Fortsetzung – nur in Rückblenden auf Arminius’ Kindheit auftaucht, bei einem späteren Zwiegespräch über die Weser hinweg nur noch ein Auge gehabt haben. Ebenso hatte der Anführer des Bataveraufstandes, Iulius Civilis, 69 n.Chr., nur noch ein Auge. Und in der Rezeption des Arminius spielen dann doch Vergleiche zu Iulius Civilis immer wieder eine Rolle.
Es gäbe noch viele weitere erwähnenswerte Elemente, z.B. die symbolische Bedeutung des Legionsadlers in der Handlung, oder die Tatsache, dass alle Römer in der Serie Latein sprechen.
(Ich kann es mir nicht verkneifen…) Liebe Sondengänger. Sucht nicht nach einem Adler aus der Varusschlacht. Der historischen Überlieferung nach, die man natürlich aus verschiedenen Quellen zusammenstoppeln muss, waren drei Legionen beteiligt. Ein Legionsadler sei gerettet worden. Drei weitere seien in den folgenden Jahren zurückerobert worden. Es gäbe also rein rechnerisch MINUS EINEN Adler zu finden. (Scherz.)
Archäologisch
Es gibt immer wieder neue Erkenntnisse zur dargestellten Epoche – aber kaum mit Einfluss auf die Erzählung einer Abenteuergeschichte im Film.
Im vor wenigen Jahren entdeckten Legionslager bei Wilkenburg/Hemmingen zum Beispiel könnte sich vielleicht Tiberius aufgehalten haben. Warum sollten nicht auch Varus, Velleius Paterculus und Arminius dort gewesen sein? Die Bedeutung der Entdeckung dieses Fundplatzes liegt natürlich auf einer ganz anderen Ebene.
Das gilt auch für die neuerliche Diskussion um den bei Kalkriese im Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen Römern und Germanen für den Zeithorizont der Clades Variana archäologisch nachgewiesenen Wall. Ein Wall spielt in der Fernsehdarstellung keine Rolle. Die Dramatik der filmischen Erzählung braucht den Wall nicht.
Ebenso: Die Schienenpanzer der römischen Legionäre im Film entsprechen den mehr als hundert Jahre jüngeren, altbekannten Funden vom Hadrianswall. Das im Detail etwas andere Modell, das durch einen spektakulären Neufund in Kalkriese bekannt wurde, findet keine Umsetzung im Film. Aber wen stört das?
In der Denkmalpflege gibt es immer wieder Befunde zu ‘germanischen’ Siedlungsplätzen. Einige unserer Mitglieder durften 2020 an der Sicherung entsprechender Befunde bei einer Notgrabung teilnehmen. (Die Funde datieren hier allerdings mutmaßlich ein paar Generationen später.) Der Darstellung des Dorfes von Segimer, Segestes, Thusnelda und Folkwyn im Film tun solche Befunde keinen Abbruch. Aber sie bereichern unsere Kenntnisse der Epoche.
Eine Fortsetzung der Serie?
Eine mögliche Fortsetzung könnte sich, auf Grund erzählerischer Erwägungen, von der historischen Überlieferung entfernen. Das muss aber nicht sein, da eben gerade die historische Überlieferung für eine Fortsetzung hinreichend weiteren Stoff bietet.
Drei Legionen sind besiegt. Varus ist tot. Historisch kommen die Römer wieder: Mit dem zukünftigen Kaiser Tiberius an der Spitze – und mit ACHT Legionen. Nach dem Tod des Kaisers Augustus übernimmt Tiberius den Thron in Rom und übergibt seinem Neffen und Adoptivsohn Germanicus die Operationen in Germanien. Dieser liefert sich mit Arminius weitere überlieferte Schlachten. Gleichzeitig gibt es auf germanischer Seite eine Macht, die mal als potentieller Verbündeter, mal als Gegner von Arminius erscheint: Der „König“ der Markomannen Marbod. Am Ende der letzten Folge der ersten Staffel sieht man ja einen Reiter, der den abgeschlagenen Kopf des Varus bei sich hat. Die historischen Quellen erzählen, dass der Kopf des Varus zu Marbod gesandt wurde.
Und auch zu Thusnelda gibt es weitere Überlieferung: Sie wird von ihrem Vater Segest gefangengesetzt. Arminius belagert diesen, um seine Braut zurückzugewinnen. Eine römische Armee entsetzt Segest. In einem Triumphzug in Rom sitzt Segest bei den Römern, seine Tochter mit dem inzwischen geborenen Sohn Thumelicus wird im Triumphzug als Gefangene vorgeführt.
Arminius wird letztendlich von seinen eigenen Leuten getötet.
So die historischen Quellen – keine moderne Drehbuchdichtung! Sicher ist das genug Stoff für weitere Folgen der „Netflix Barbaren“.
Fazit:
Meiner persönlichen Einschätzung nach hat diese Serie sehr viel richtig gemacht. Es ist lange her, dass ich mich durch die Verfilmung eines historischen Abenteuerstoffes so gut unterhalten fühlte.
Wer die aktuelle filmische Ästhetik in Abenteuerfilmen bzw. -serien für Erwachsene nicht grundsätzlich ablehnt, dem wird es vielleicht ähnlich gehen.
Bildnachweis:
Poster und Szenenfotos:
© Netflix Pressematerial, Agentur Schröder&Schömbs, mit freundlicher Genehmigung durch Sina Neumann. Szenenfotos von Marie-Claire Kozik.
Portrait des Tiberius:
© Lothar Jungeblut 2018.
Für weitere Beschäftigung:
Die Forschungsliteratur zur Clades Variana, Arminius, römischer Okkupation in Norddeutschland – noch ohne alle Fragen zu historischen Stoffen in Unterhaltungsmedien! – füllt mehrere Regalmeter. Deshalb hier für einen ersten Einstieg nur wenige Hinweise:
– Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien, München 2008.
(Die überarbeitete Neuauflage 2017 ist der Buchpreis für das FABL Preisrätsel im Januar 2021. Noch ist die Teilnahme möglich!)
– Rainer Wiegels (Hrsg.): Die Varusschlacht. Wendepunkt der Geschichte?, Stuttgart 2007. (Mit Neuauflagen.)
– (Verschiedene Herausgeber und Autoren): 2000 Jahre Varusschlacht – Imperium – Konflikt – Mythos, 3 Bände, Stuttgart 2009. (Mit Neuauflagen.)
Zur Netflix-Serie gibt es auch ein wunderbares Radio-Interview mit Archäologin Heidrun Derks, Sascha Priester, Archäologe und Journalist, und Althistoriker Reinhard Wolters (als früherem Dozent für alte Geschichte an der TU Braunschweig vielleicht noch einigen bekannt, heute Professor an der Uni Wien) im Südwestdeutschen Rundfunk: