Forschungsgeschichte und aktuelle Beobachtungen
von Lothar Jungeblut
Zur ehrenamtlichen archäologischen Denkmalpflege gehört es, dass man regelmäßig die bekannten, obertägig erhaltenen Denkmäler besucht, um deren Zustand zu kontrollieren. Sind durch Forstmaßnahmen oder ähnliches unbeabsichtigt Zerstörungen aufgetreten? Gab es Vandalismus oder Raubgräberei? Hat Baumwurf nach irgendeinem Sturm die Denkmalsubstanz beschädigt – im Baumwurfteller vielleicht sogar archäologische Funde nach oben gerissen oder in der Baumwurfgrube archäologische Befunde freigelegt? Solche Begehungen führe ich immer wieder durch, und jüngst war der mutmaßlich frühmittelalterliche, „Wurtgarten“ genannte, Ringwall im Reitlingstal im Elm dabei.
Unter allen archäologischen Denkmälern rund um das Reitlingstal hatte ich diesen Platz bisher ein wenig „stiefmütterlich“ behandelt, da er wohl in eine Epoche gehört, mit der ich mich weniger intensiv beschäftigt hatte. Die archäologischen/denkmalpflegerischen Beobachtungen, die hier derzeit gemacht werden können, veranlassten mich aber dazu, mich mit dem Platz auseinanderzusetzen, und diesen Beitrag zu schreiben.
Forschungsgeschichte, Altgrabungen und die vorläufige historische Einordnung
Eine erste archäologische Ausgrabung erfolgte 1905 durch den vorgeschichtlich interessierten Wolfenbütteler Gymnasialprofessor (Oberlehrer) Hermann Lühmann.
Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Der Aufbau der Befestigungslinie von außen nach innen:
– Der Graben sei mit einer Tiefe von etwa 1,75m unter Oberfläche („Mannshöhe“) erhalten.
– Darauf folgt eine Berme von etwa einem Meter Breite.
– Eine etwa 75 cm hohe und 125 cm tiefe Trockenmauer (Zitat des Ausgräbers) „aus großen, ziemlich regelmäßigen Quadern von Bruchsteinen (Kalktuff vom Talausgange, Schaumkalk von den gegenüberliegenden Höhen) aufgeführt.“ (Lühmann, S. 26/222.)
– Dahinter befindet sich eine Wallschüttung, mutmaßlich aus dem Grabenaushub, bis zu 7 Meter tief und bis zu 2 Meter hoch.
– Die Außenseite sei mit Steinpflaster „bekleidet“.
– Im Westen, am damaligen wie heutigen Waldrand, habe es ein Tor gegeben. Zu Lühmanns Zeiten war nur noch die nördliche (linke) Torwange erhalten, mündliche Überlieferungen zu seiner Zeit berichteten von einem erkennbaren Tor. Die zu seiner Zeit erhaltene „linke Torwange“ beschreibt Lühmann als aus großen Quadern gefügt, die mit Gipsmörtel verbunden seien.
Zitat des Ausgräbers: „Irgendwelche zeitlich bestimmbaren Funde sind in und an ihm nicht zum Vorschein gekommen.“ Lühmann vermutet einen Zusammenhang mit den ‘berüchtigten’ „Heinrichsburgen“ des zehnten Jahrhunderts (n. Chr.).
Im Niedersächsischen Landesarchiv in Wolfenbüttel existiert übrigens unter der Obersignatur NLA WO, 232 N der Nachlass von Lühmann. Es könnte gut sein, dass eine Auswertung dieses Bestandes noch Erkenntnisse birgt, die bisher nirgendwo publiziert sind.
Tatsächlich gibt es seit Lühmanns Untersuchung keinen wesentlichen Erkenntnisfortschritt.
1954/55 erfolgten weitere Ausgrabungen durch Prof. Dr. Tode, Archäologe und seinerzeit Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums. Bedauerlicher Weise ist diese Grabung nur in einem sehr knappen Vorbericht publiziert.
Tode fand seiner Einschätzung nach einige Scherben der Frühen Römischen Kaiserzeit, die aber auf Grund der Fundumstände nicht zur Datierung der Befestigung geeignet seien, sondern auf eine frühere Siedlung der entsprechenden Epoche in der näheren Umgebung verweisen.
Tode stellte einen grob 2 Meter tiefen und 6 Meter breiten Graben fest. Dahinter eine kurze Berme, die Außenfront des Walles bilde eine „mauerartige Steinverblendung ohne Mörtel“, und dann folge eine „regellose Schicht von Geröll und Bruchsteinen“ mit 1,5 Meter Breite. Es gebe keinen Hinweis auf Holzkonstruktionen. Auch gebe es im Wallaufbau keinerlei Keramik. Damit sind wir dann kaum weiter als bei Lühmann.
Er urteilt vorläufig: „vielleicht sächsische Adels- und Verwaltungsburg des 9./10.JH („Heinrichsburg“?).“
Der regionale Burgenforscher und Archäologe H.A. Schultz erwähnt zwar in seinem Werk „Burgen und Schlösser des Braunschweiger Landes“ (1983, S. 55), dass es vom Wurtgarten Scherbenfunde des 9. und 10. JH gebe. Das aber ist wahrscheinlich ein Missverständnis, denn die beiden Ausgräber erklärten ja ausdrücklich das Fehlen solcher Funde.
Lutz Grunwald berücksichtigte 2003 für seinen Aufsatz „neu entdeckte Grabungsunterlagen“ der Grabung Tode. Für den Wurtgarten ergab sich hier aber nur eine Änderung in der Beurteilung der Trockensteinmauer an der Wallfront, die doch qualitätvoller ausgeführt war, als man es den Formulierungen von Tode entnehmen kann.
Zuletzt stellte Jörg Weber in seinem Überblick über die archäologischen Denkmäler im Landkreis Wolfenbüttel 2011 fest: „…eindeutig datierende Funde fehlen bisher!“
Der Mittelalterarchäologe Hans-Wilhelm Heine erklärte zum „Wurtgarten“ im Reitlingstal:
„Der Lageform, der Größe und Bauweise nach gehört der ‘Wurtgarten’ in die Reihe der nordwestdeutschen Ringwälle des 9. und 10. Jahrhunderts.“ In seinem Büchlein zu den „Frühe Burgen und Pfalzen in Niedersachsen“ führt er verschiedene Beispiele solcher Burgen an, die vielleicht mit dem Wurtgarten vergleichbar sind (ab S. 36). Nicht mehr haltbar sei jedoch die ältere Vermutung, die sächsischen Rundwälle seien allesamt das Ergebnis des historisch überlieferten Burgenbauprogramms Heinrichs des I. (S. 50).
Zur Innenbebauung des Wurtgarten haben bisher keinerlei weitergehende Untersuchungen stattgefunden. Ein kleiner Schnitt, den Tode angelegt hatte, brachte zwar eine 80 cm unter Oberfläche gelegene Kulturschicht, das Fundmaterial allerdings muss als verschollen angesehen werden (Grunwald, S. 46).
Aktuelle Beobachtungen
Der nördliche, unter Wald befindliche Teil des mutmaßlich frühmittelalterlichen Ringwalles „Wurtgarten“ ist im Gelände noch gut erkennbar. Allerdings ist er über längere Strecken durch Tierbaue regelrecht durchlöchert. Zur Anlage ihrer Behausungen haben die Tiere kubikmeterweise Erde bewegt. Nahe des nördlichsten Punktes hat man fast den Eindruck, dass hinter dem ursprünglichen Wall ein neuer, zweiter Wall entsteht. Ein oberflächliches Absuchen dieser Auswurfhügel brachte keinerlei archäologische Funde, was aber nach den Bemerkungen von Lühmann und Tode zu erwarten war. Welche Tiere hier genau tätig sind, kann ich nicht sagen. Vielleicht kennt sich einer der Leser dieses Beitrags aus, schaut sich das einmal an und gibt mir einen Hinweis. Für Dachse erscheinen mir die meisten Eingänge zu klein. Außerdem ist mir nicht bekannt, dass sie in größeren Kolonien leben. Für Kaninchen andererseits erscheinen mir die hier bewegten Erdmassen zu groß. Grimbart? Oder gar Reineke? Wer sonst – oder doch einfach nur Kaninchen?
An der Außenseite des Walles haben diese Tiergänge an mehreren Stellen die von Lühmann und Tode erwähnte Trockensteinmauer frei gelegt. Es lässt sich erahnen, dass mit der Errichtung dieser Burg schon ein ziemlicher Aufwand getrieben wurde. Natürlich verspürt man sofort den Wunsch, hier einmal ein Stück des Mauerwerkes über zwei, drei Meter freizulegen und es dann vernünftig zu dokumentieren. Auch ist nirgendwo ein Wallprofil aus den Altgrabungen publiziert. Einen viel größeren Erkenntnisgewinn versprächen Untersuchungen des Innenraumes, denen eine geophysikalische Prospektion vorangehen sollte. Nichts dergleichen ist allerdings geplant.
Der südliche Teil ist nur kaum erkennbar erhalten. Wenn man im Gelände steht, glaubt man, auf der aktuellen Pferdewiese einen Wallverlauf zu erahnen. In der aus dem LIDAR-Oberflächenscan abgeleiteten Graustufengrafik ist der Verlauf auf der Wiese recht gut erkennbar. Lediglich die Situation im Südwesten ist unklar. Die Hoffnung, in der Grafik vielleicht Reste der Umwallung einer möglichen Vorburg erkennen zu können, oder auch die Fortsetzung der vom gegenüberliegenden Hang des Kuxberges herabkommenden Wälle, hat sich leider nicht erfüllt.
Während der Arbeit an diesem Beitrag stellte sich heraus, dass zeitgleich der Kreisheimatpfleger des Landkreises Wolfenbüttel Marco Failla ein Youtube Video zum Wurtgarten erstellt hatte. Dieses Video enthät wunderbare Drohnenaufnahmen und sei sehr empfohlen:
→ Die Reitlingsbefestigungen im Elm – Teil 3: Der Wurtgarten
Die Interpretation des Luftbildbefundes als Doppelwallanlage allerdings entspricht nicht den Lidar-Laserscan-Daten.
Quellen und Referenzen:
Fotos und Kartenskizze: © Lothar Jungeblut 2020.
Hermann Lühmann: Die vor- und frühgeschichtlichen Befestigungen auf dem Heeseberge, im Oder und am Reitlingstale im Elm, Leipzig 1927. (Sonderdruck aus Mannus, 5. Ergänzungsband, nach Originalseitennummerierung S. 197-239.)
Alfred Tode: Spätlatène-Burgen im Elm östlich Braunschweig, in: Germania 36, Berlin 1958, S. 197-200 + Tafel 26.
Hans Adolf Schultz: Burgen und Schlösser des Braunschweiger Landes, Braunschweig 1983. (Bes. S. 54ff.)
Hans-Wilhelm Heine: Frühe Burgen und Pfalzen in Niedersachsen, Hildesheim 1991.
Hans-Wilhelm Heine: Reitlingstal, der frühmittelalterliche Ringwall Wurtgarten, in: Wolf-Dieter Steinmetz (et alii): Das Braunschweiger Land (Führer zu den archäologischen Denkmälern in Deutschland 34), Stuttgart 1997, S. 298ff.
Lutz Grunwald: Schutz und Trutz in eindrucksvoller Manier – die Befestigungsanlagen im Reitlingstal, in NNU 72, Stuttgart 2003, S. 37-49.
Jörg Weber: Archäologische Denkmale im Landkreis Wolfenbüttel, in: Heimatbuch 2011 Landkreis Wolfenbüttel (57), Wolfenbüttel 2011, S. 60-70. (Hier: S. 62.)
ADABweb – Fachinformationssystem der Niedersächsischen Denkmalpflege. Abrufdatum 17.05.2020 Evessen FStNr. 3 (Wurtgarten) ID 28947748